Ansbach/Paris – Wegen der Corona-Pandemie konnten viele Veranstaltungen im Zeichen der deutsch-französischen Freundschaft nicht stattfinden. Auch Professor Dr. Henri Ménudier, der zu den profiliertesten Politikwissenschaftlern Frankreichs zählt, musste seine Vortragsreihe mit zwanzig Veranstaltungen, überwiegend in Mittelfranken, absagen. Seit vielen Jahren engagiert sich der frühere Direktor des Centre Universitaire d’Asnières (Paris 3 – Sorbonne Nouvelle) für eine Vertiefung der deutsch-französischen Zusammenarbeit in der Zivilgesellschaft, insbesondere Schüler-, Studenten- und Lehreraustausch sowie Kommunalpartnerschaften. Professor Ménudier ist ein langjähriger Wegbegleiter der Regionalpartnerschaft des Bezirks Mittelfranken zum französischen Limousin, heute zugehörig zur Großregion Nouvelle-Aquitaine, und den drei Départements Haute-Vienne, Creuse und Corrèze.
Im nachfolgenden Beitrag schreibt Professor Ménudier, welche Themen er in seiner Vortragsreihe vermitteln wollte – über die deutsch-französische Freundschaft und europäische Einigung, besonders in Zeiten von Corona:
„Es gab zunächst den 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa am 8. Mai 1945. Ich möchte hier auf etwas hinweisen, das nicht genug wahrgenommen wird. Zwischen 1870 und 1945 haben wir drei fürchterliche Kriege erlebt. Frankreich und Preußen kämpften mit der Unterstützung des Königreiches Bayern von 1870 bis 1871 gegeneinander. Damit gingen Elsass und ein Teil Lothringens für Frankreich verloren. Die Konfrontation Deutschland gegen Frankreich spielte eine entscheidende Rolle im Ersten Weltkrieg, der zum größten Teil auf französischem Boden geführt wurde. Auf den Denkmälern kann man die lange Liste der toten Soldaten lesen. Durch die französische Niederlage im Juni 1940, die deutsche Besatzung und die Massaker von Tulle und Oradour-sur-Glane, im Limousin am 9. Juni und 10. Juni 1944, wurde das deutsch-französische Verhältnis durch Hass beherrscht.
75 Jahre Krieg zwischen 1870 und 1945, aber 75 Jahre Frieden zwischen 1945 und 2020. Der zweite Anlass meines Engagements war zu erklären, warum Versöhnung, Zusammenarbeit und Freundschaft sich endlich durchgesetzt haben. Viele Menschen, Jung und Alt, haben sich auf beiden Seiten des Rheins für diese Annäherung eingesetzt. Hier haben die Regionalpartnerschaft des Bezirks und die Kommunalpartnerschaften zwischen Mittelfranken und dem Limousin eine wichtige Rolle gespielt.
Wegen des Kalten Krieges zwischen den USA und der UdSSR brauchten die Amerikaner ein starkes Europa. Dafür musste der deutsch-französische Gegensatz überwunden werden. Weise Staatsmänner wie Schuman, Monnet, Adenauer und De Gasperi haben dafür gewirkt, dass sich die deutsch-französische Versöhnung und die europäische Einigung gegenseitig ergänzten. Die berühmte Erklärung Robert Schumans am 9. Mai 1950, vor 70 Jahren, hat wirklich den Grundstein gelegt. Trotz berechtigter Kritik kann sich die Bilanz der Europäischen Union sehen lassen.
Es gab einen dritten Anlass für meine, wegen der Corona-Pandemie abgesagten Vortragsreise: Zum 1. Juli dieses Jahres wird Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen. Da müssen wichtige und schwierige Entscheidungen getroffen werden. Der mehrjährige Finanzrahmen für die Periode 2021 bis 2027 soll verabschiedet werden. Der Anfang der Konferenz zur Zukunft Europas (von Staatspräsident Macron vorgeschlagen) ist vom 9. Mai auf zunächst September verschoben worden. Wird sie stattfinden, mit welchem Inhalt und mit welchen Strukturen? Wer wird daran teilnehmen? Brüssel und Berlin werden vor allem mit den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und internationalen Folgen der Corona-Krise konfrontiert sein – die größte existentielle Herausforderung seit 1945. Eines steht fest, kein Staat allein kann mit der Krise fertig werden, wir brauchen mehr denn je ein starkes und handlungsfähiges Europa. Darüber lohnt es sich zu diskutieren.
Da die EU wenig Kompetenzen im Bereich Gesundheitspolitik besitzt, haben die Mitgliedsstaaten zunächst sehr national reagiert. Es gab sogar Exportverbote für Schutzmaterial. Die Grenzen wurden geschlossen, obwohl die Pandemie sich ohne Rücksicht auf Staaten und Grenzen verbreitet. Grundprinzipien der EU wie der freie Verkehr von Personen und Gütern wurden verletzt. Wo ist der Geist der Solidarität? Mehrere Staaten, darunter Deutschland lehnen die Haftung der Mitgliedstaaten für die Schulden anderer Mitglieder ab, die Beistand brauchen. Deutschland profitiert mehr als andere Staaten vom europäischen Binnenmarkt.
Es hat aber auch positive Zeichen gegeben. Gestrandete Touristen im Ausland wurden unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit zurückgeholt. Französische Patienten wurden in Deutschland und Luxemburg behandelt. Nach den Anfangsschwierigkeiten hat die EU eine Koordinierungsrolle übernommen und viel Geld locker gemacht. Es ist erstaunlich, dass die Zahl der Todesfälle in Frankreich wegen des Coronavirus mehr als dreimal höher als in Deutschland ist. Hoffentlich bleibt trotz der Krise genug Zeit, um bis zum Jahresende zwei wichtige Gedenktage zu begehen: 30 Jahre Deutsche Einheit am 3. Oktober und am 9. November jährt sich der Todestag von General Charles de Gaulle zum 50. Mal.“